Worin liegt die Besonderheit der romantischen Anthropologie?
Die romantischen Anthropologen setzen die aufklärerische Tradition fort. An die Stelle des Empirismus tritt nun die neue Modedisziplin des frühen 19. Jahrhunderts: Schellings spekulative Naturphilosophie. Die romantische Anthropologie ist so Teil – und wohl auch Herzstück – eines ersten Gegenentwurfs zur modernen, genauer exakten Naturwissenschaft. Vom ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts an beginnt sie, die aufklärerische Anthropologie zu infiltrieren und schließlich zu verdrängen.
Damit treten Spekulationsfreude und idealistisches Systemdenken an die Stelle von Beobachtung und geduldiger Induktion. Anders als die strengen philosophischen Systemgebäude eines Schelling oder Hegel bleibt die Anthropologie des frühen 19. Jahrhunderts aber immer noch auf allgemeinverständliche Mitteilung und Verbreitung ihrer Erkenntnisse bzw. Ansichten aus. Gerade deshalb vermischt sie spekulativ-naturphilosophische Ansätze und Argumente mit medizinischer Beobachtung und mit Elementen christlicher Herkunft.
Neu ist jedoch nicht nur dieses eklektische Verfahren, sondern vor allem die Übernahme der zentralen Denkfigur des Idealismus: der dialektischen Vermittlung von Gegensätzen. Sie ist das wichtigste Merkmal der romantischen Anthropologie und ein potentes Hilfsmittel, um Geist und Körper als eine Einheit aus Gegensätzen zu denken – eine Aufgabe, an der die aufklärerische Anthropologie letztlich gescheitert war. Die dialektische Denkfigur wird aber auch auf alle anderen möglichen Bereiche angewendet – etwa auf das Geschlechterverhältnis oder die „romantische Liebe“.
Eine dritte Eigenheit romantischer Anthropologie ist ihr ausgeprägt geschichtliches Denken. Nach dem Modell des dialektischen Dreischritts wird nicht nur das Leben des einzelnen Menschen mit seinen unterschiedlichen „Lebensaltern“, sondern auch die Entwicklung des Menschengeschlechts gedacht. Ein Lieblingsprojekt der romantischen Anthropologie ist der Entwurf umfassender Universalgeschichten, die die Entwicklung von Kosmos, anorganischer Natur, pflanzlichem, tierischem und menschlichem Leben als einen einheitlichen, dem gleichen Grundgesetz folgenden Prozeß darstellen.