Begriffswandel

Historischer Lexikonartikel:

Anthropologie, Menschenlehre, eine Wissenschaft, welche die physische und geistige Natur des Menschen umfaßt. In neuern Zeiten hat man sie als Naturlehre des Menschen von der Naturgeschichte desselben abgesondert. Ihre Behandlung aber ist verschieden, je nachdem man die physische oder geistige Seite des Menschen mehr im Auge gehabt hat, oder beide zu verbinden suchte; ferner nach dem besondern Gesichtspunkte und Zwecke, aus und zu welchem man den Menschen betrachtet. Da man den Menschen in einer dreifachen Hinsicht betrachten muß: 1) nach seiner physischen Natur, 2) nach seiner geistigen Natur, 3) nach Dem, was er als freihandelndes Wesen aus sich macht, so hat man in ersterer Hinsicht eine somatische oder physiologische Anthropologie (die man, weil sie mehr der Heilwissenschaft dient, auch medicinische Anthropologie genannt hat); ferner eine psychische Anthropologie (s. Psychologie) und eine vergleichende Anthropologie oder Anthropologie ohne Beinnamen angenommen, die man jedoch mehr als philosophische Wissenschaft behandelt. Die letztere geht vorzüglich auf eine Kenntniß des Menschen und führt zur richtigen Menschenkenntniß (s. d.) hin. Doch ist sie verhältnißmäßig noch am wenigsten bearbeitet. Hartmann, Heinroth, v. Berger, Hillebrand haben Versuche ihrer Bearbeitung gemacht. Vgl. G. E. Schulze, „Psychische Anthropologie“ (3 A., Götting. 1826), und D. Choulant’s „Anthropologie für Nichtärzte“ (Dresd. 1828, 2 Bde.).

Allgemeine deutsche Real=Encyklopädie für die gebildeten Stände. Band 1. Reutlingen 1830, S. 319.

 

Aktueller Lexikonartikel:

Anthropologie [griech.] die, -, die Wissenschaft vom Menschen, bes. unter biologischem, philosophischem, pädagogischem und theologischem Aspekt.

V. a. im engl. Sprachgebrauch umfaßt die A. als Erfahrungswissenschaft auch die Erscheinungen des kulturellen und sozialen Lebens, also die Soziologie, Sozialpsychologie, Völker- und Volkskunde, auch z. T. Sprachwissenschaft, Vorgeschichte und Archäologie. In den USA wird z. B. als Sonderzweig die Kultur-A. (engl. Cultural anthropology) unterschieden, unter der die gesamte Völkerkunde verstanden wird.

Biologische Anthropologie

Die biolog. A. ist die Disziplin der Biologie, die den Menschen als Organismus behandelt. Ihre Schwerpunkte liegen in der Erforschung der menschl. Phylogenese (Stammesentwicklung) und dem Studium der raumbezogenen Variabilität des heutigen Menschen (s. Menschenrassen) sowie dem Studium von Ontogenese (Individualentwicklung), Wachstum und Konstitution.

[…] Die biolog. A. erhielt dann mit dem Aufblühen der Naturwissenschaften, bes. von Biologie, Medizin und Anatomie, exakte Grundlagen. Ein Ereignis von grundlegender Bedeutung war im 18. Jh. die Eingliederung des Menschen in das System des Tierreichs durch C. von Linné; er stellte in der 12. Auflage seiner >Systema naturae< (1766) den Menschen neben den Schimpansen in die Reihe der Primaten. – Als der eigentl. Begründer der neuzeitl. A. gilt J. F. Blumenbach, dessen Rasseneinteilung von 1775 im wesentlichen noch heute gilt. I. Kant erkannte bereits das Übergewicht der Vererbung für Stammesentwicklung und innerartliche Differenzierung. Im 19. Jh. wurde der Menschen auch in die neuen Vorstellngen einer Evolution (C. Darwin, E. Haeckel, T. Huxley) der gesamten Organismenwelt einbezogen. Schon früher (J. B: Lamarck, W. Lawrence) aufgetauchte Gedanken engerer stammesgeschichtl. Zusammenhänge zw. Mensch und Primaten, bes. Menschenaffen, gewannen an Gewicht; sie wurden im 20. Jh. durch viele Fossilienfunde erhärtet.

[…] Mit der histor. Entwicklung der A. gingen Gründungen wissenschaftl. Gesellschaften und akadem. Vertretungen parallel. Mit der Gründung der >Societé d’Anthropologie de Paris< durch P. Broca (1859), der Enstehung einer >École d’Anthropologie< (1876) und ähnlicher Organisationen in vielen Ländern (1860-90) begann die Blütezeit der A., und zwar dank enger Zusammenarbeit von Anthropologen, Anatomen, Prähistoriker, Archäologen, Ethnologen u. a. 1886 wurde in München der erste dt. Lehrstuhl für A. (J. Ranke) eingerichtet.

Philosophische Anthropologie

Philosoph. A. im weiteren Sinn umfaßt die Geschichte der menschlichen Selbsdeutung von den Griechen bis heute. Der Terminus A. findet sich erstmals Ende 16. Jh. bei Otto Casmann (geb. 1562, gest. 1607) in dessen >Psychologia anthropologica sive animae humanae doctrina< (1594). Während in Antike und Mittelalter die Frage nach dem Wesen des Menschen noch ganz in die Systeme der Ontologie und Metaphysik eingebaut war, vollzog sich in der Neuzeit bei R. Descartes und I. Kant eine radikale Wende zum Subjekt, zunächst zum transzendentalen Subjekt, das die Erkenntnistheorien des dt. Idealismus, später des Neukantianismus und E. Husserls bestimmte, bei L. Feuerbach, S. A. Kierkegaard, M. Stirner und F. Nietzsche dann zum leibhaften Subjekt oder zur konkreten >Existenz<, was sich in der Lebensphilosophie , der Existenzphilosophie sowie den neomarxist. und strukturalist. Schulen fortsetzte.

Indem Kant in seiner Logikvorlesung die drei zentralen philosoph. Fragen >Was kann ich wissen?<, >Was soll ich tun?< und >Was darf ich hoffen?< in die grundlegende Frage >Was ist der Mensch?< münden ließ, formulierte er erstmals die Aufgabe einer philosoph. A., ohne sie freilich, ebensowenig wie der dt. Idealismus, eigens in Angriff zu nehmen. Erst Feuerbach vollzog die >anthropolog. Wende< im Gegensatz gegen G. W. F. Hegels Philosophie des absoluten Geistes, indem er an die Stelle der Theologie die A. setzte, worin ihm K. Marx folgte. Stirner radikalisierte diese Wende auf den >Einzigen< hin, Kierkegaard hinsichtlich der einzelnen Existenz. Nietzsche und die Lebensphilosophen W. Dilthey, H. Bergson und L. Klages thematisierten das leibhafte Leben und Erleben und erkannten ihm einen Primat vor dem rein intellektuellen Geist zu.

Philosoph. A. im engeren Sinn als philosoph. Disziplin entstand Ende der 1920er Jahre. […]

Pädagogische Anthropologie

Die pädagogische A. befaßt sich mit der Bestimmung und dem Selbstverständnis des Menschseins unter dem Zentralaspekt der Erziehung.

Theologie Anthropologie

Grundlegend für die christli. theolog. A. ist die Aussage 1.Mos. 1,26 über die Gottebenbildlichkeit (s. Imago Dei) des Menschen, der durch seine Geistbegabung zur Wahrheitserkenntnis und zur Verantwortung befähigt ist. Die Möglichkeit, dieser Wesenbestimmung entsprechend zu leben, ist durch die Sünde (im traditionellen Sprachgebrauch: die Erbsünde) nach kath. Lehre beeinträchtigt (>verwundet<), nach ev. Auffassung in stärkerem Ausmaß geschädigt oder gar umfassend zerstört. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Möglichkeit und Schwierigkeit oder Unmöglichkeit natürlicher Gotteserkenntnis uns allgemein-menschlicher Ethik.

Brockhaus – die Enzyklopädie : in 24 Bänden. – 19., völlig neuberarb Aufl., Bd 1. Mannheim 1986.