Wie definiert man Anthropologie?
Heute würden wir beim Wort „Anthropologie“ wohl entweder an die philosophische Betrachtung des Menschen und seiner Sonderstellung in der Natur denken oder an ethnologische Studien bei Naturvölkern. Das deckt sich aber nur zum Teil mit dem Verständnis, das Aufklärung und Romantik von diesem Fach hatten.
Nicht ohne Grund liegen die Anfänge der Anthropologie in der Renaissance – es ist eine neuzeitliche Wissensform, die ihr Interesse nicht mehr auf die Metaphysik, sondern auf das Hier und Jetzt menschlicher Existenz richtet und dabei philosophische Ambitionen mit physiologischen und psychologischen Fragestellungen verbindet; so vereint die Anthropologie von ihrem Beginn an Wissensgebiete, die heute der Medizin, der Psychologie, der Philosophie und der modernen Anthropologie zugerechnet würden.
Dieses Interesse am „ganzen Menschen“ läßt die Anthropologie in der Spätaufklärung, die sich ganz der empirischen Erforschung des Menschen verschrieben hat, zur Fundamentaldisziplin werden: Nicht mehr deduktiv, von universell gültigen Vernunftwahrheiten ausgehend (wie es die für die deutsche Frühaufklärung so ungemein prägende rationalistische Philosophie Christian Wolffs zu tun pflegte), sondern induktiv, auf der Basis von Selbstbeobachtung und gesammelten Fallgeschichten, soll nun untersucht werden, wie „Geist“ und „Körper“ miteinander zusammenhängen.
So erscheinen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zahlreiche anthropologische Monographien – die erste und berühmteste ist Ernst Platners Anthropologie für Ärzte und Weltweise (1772) – und Zeitschriften – zum Beispiel das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783-93, hg. von Karl Philipp Moritz). Aber auch die Schriftsteller der Zeit sind am Studium des ganzen Menschen interessiert und betrachten ihre literarischen Werke als Teil des anthropologischen Projekts; das gilt für Karl Philipp Moritz‘ Anton Reiser ebenso wie für Wielands Agathon, für Goethes Werther ebenso wie für Schillers Räuber.
Worin liegt die Besonderheit der romantischen Anthropologie?
Die romantischen Anthropologen setzen die aufklärerische Tradition fort. An die Stelle des Empirismus tritt nun die neue Modedisziplin des frühen 19. Jahrhunderts: Schellings spekulative Naturphilosophie. Die romantische Anthropologie ist so Teil – und wohl auch Herzstück – eines ersten Gegenentwurfs zur modernen, genauer exakten Naturwissenschaft. Vom ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts an beginnt sie, die aufklärerische Anthropologie zu infiltrieren und schließlich zu verdrängen.
Damit treten Spekulationsfreude und idealistisches Systemdenken an die Stelle von Beobachtung und geduldiger Induktion. Anders als die strengen philosophischen Systemgebäude eines Schelling oder Hegel bleibt die Anthropologie des frühen 19. Jahrhunderts aber immer noch auf allgemeinverständliche Mitteilung und Verbreitung ihrer Erkenntnisse bzw. Ansichten aus. Gerade deshalb vermischt sie spekulativ-naturphilosophische Ansätze und Argumente mit medizinischer Beobachtung und mit Elementen christlicher Herkunft.
Neu ist jedoch nicht nur dieses eklektische Verfahren, sondern vor allem die Übernahme der zentralen Denkfigur des Idealismus: der dialektischen Vermittlung von Gegensätzen. Sie ist das wichtigste Merkmal der romantischen Anthropologie und ein potentes Hilfsmittel, um Geist und Körper als eine Einheit aus Gegensätzen zu denken – eine Aufgabe, an der die aufklärerische Anthropologie letztlich gescheitert war. Die dialektische Denkfigur wird aber auch auf alle anderen möglichen Bereiche angewendet – etwa auf das Geschlechterverhältnis oder die „romantische Liebe“.
Eine dritte Eigenheit romantischer Anthropologie ist ihr ausgeprägt geschichtliches Denken. Nach dem Modell des dialektischen Dreischritts wird nicht nur das Leben des einzelnen Menschen mit seinen unterschiedlichen „Lebensaltern“, sondern auch die Entwicklung des Menschengeschlechts gedacht. Ein Lieblingsprojekt der romantischen Anthropologie ist der Entwurf umfassender Universalgeschichten, die die Entwicklung von Kosmos, anorganischer Natur, pflanzlichem, tierischem und menschlichem Leben als einen einheitlichen, dem gleichen Grundgesetz folgenden Prozeß darstellen.